Über Rollen, Erwartungen, Resilienz und die Kunst, sich selbst nicht zu verlieren
Es gibt diese Tage, an denen das Leben nicht in freundlichen Portionen daherkommt, sondern in einer Kiste voller Zitronen. Nicht hübsch sortiert, sondern wild durcheinander: Jobstress, schlaflose Nächte wegen der Kinder, Deadlines, Elternabende, Krankmeldungen, Rechnungen, die Frage nach der nächsten Karriereentscheidung — und irgendwo zwischen allem der Wunsch nach einem Moment, der nur einem selbst gehört.
Moderne Lebenswirklichkeit bedeutet nicht nur viel zu tun zu haben. Sie bedeutet, gleichzeitig in verschiedenen Welten zu leben: professionell, privat, emotional, organisatorisch. Die Grenzen zwischen ihnen verlaufen heute weicher, fordernder, durchlässiger. Und besonders Frauen erleben diese Mehrfachbelastung mit einer Intensität, die lange unsichtbar war — und erst in den vergangenen Jahren klar benannt wurde.
Die stille Doppelrolle — und das unsichtbare Dazwischen
Wer arbeitet und Kinder hat, lebt nicht in zwei Systemen, sondern in einem dritten: dem Raum dazwischen.
Es ist der Ort, an dem Excel-Tabellen auf Kita-Betreuungszeiten treffen, an dem Mental Load beginnt, bevor der Tag überhaupt gestartet ist. Nicht die Aufgaben sind das Problem, sondern das Denken davor — das dauerhafte Mitplanen, Mitfühlen, Mitsortieren, Mitverantworten.
Das läuft oft leise ab. Zwischen der E-Mail an die Kollegin und dem „Wo ist eigentlich dein Mathe-Heft?“ entsteht ein mentaler Spagat, der keine Pause kennt. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen seit Jahren, dass diese unsichtbare Organisationsarbeit der entscheidende Stressfaktor vieler Frauen ist — intensiver als die reine Menge an Stunden, die sie arbeiten.
Noch deutlicher wird die Lage bei Alleinerziehenden. Denn dort gibt es niemanden, der Gedankenkaskaden abnimmt oder Verantwortung teilt. Viele von ihnen entwickeln — aus schierer Notwendigkeit — eine bemerkenswerte Widerstandskraft: klare Prioritäten, schnelle Entscheidungen, pragmatische Lösungswege. Doch Resilienz ist nicht das Gleiche wie Belastbarkeit. Und schon gar nicht grenzenlos.
Die neue Realität: Frauen wollen alles — und sie dürfen das
Ein weit verbreitetes Klischee behauptet noch immer, Frauen würden zu viel wollen: eine Karriere, die trägt; eine Familie, die Raum gibt; ein Alltag, der nicht komplett aus ihnen herausfrisst; ein Leben, das mehr ist als Funktionieren. Doch die Forschung zeichnet ein anderes Bild: Frauen wollen nicht zu viel. Sie wollen genau das, was modernes Leben ohnehin verlangt — nur ohne Schuldgefühle. Sie wollen Erfolg und Zugehörigkeit. Freiheit und Bindung. Wirkung und Erholung. Sie wollen sich entfalten, statt sich zu entscheiden müssen, wer sie nicht sein dürfen.
Das Problem ist nicht der Anspruch.
Das Problem ist, dass Strukturen oft im letzten Jahrzehnt stehen geblieben sind, während Frauen längst im nächsten angekommen sind.
Me-Time ist kein Luxus — sie ist Atemholen in einem zu engen Raum
Zwischen Kinderzimmerchaos und Projektpräsentation, zwischen Hustenbonbons und Karriereplanung, zwischen Kita-Anruf und Quartalsabschluss braucht der Mensch Momente, in denen er wieder bei sich ankommt.
Me-Time ist kein Wellnessprogramm.
Sie ist der Gegenpol zu Dauerpräsenz.
Studien bestätigen, dass selbst kurze Momente echter Selbstzuwendung — ein Spaziergang, zehn Minuten Stille, eine Tasse Kaffee ohne Ablenkung, ein Abend ohne Verpflichtungen — messbare Auswirkungen haben: klarere Entscheidungen, weniger Stressreaktionen, eine stabilere Stimmung.
Es ist kein Egoismus, sich selbst Zeit zu geben. Es ist ein Ausdruck von innerer Haltung: Auch ich darf Teil meines eigenen Lebens sein.
Resilienz entsteht nicht durch Schönreden — sondern durch Klarheit
Der alte Satz „Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus“ klingt heute wie eine Einladung zum Schönreden. Doch erwachsene Resilienz funktioniert anders.
Es geht nicht darum, Bitterkeit zu überzuckern.
Es geht darum, sie zu verstehen.
Moderne Resilienzforschung zeigt, dass Menschen nicht daran wachsen, Probleme zu überdecken, sondern daran, sie anzuerkennen und sich dann bewusst zu entscheiden, wie sie damit umgehen wollen.
Resilienz heißt nicht, dass alles leicht wird.
Es heißt, dass wir uns selbst nicht verlieren, wenn Dinge schwer werden.
Manchmal bedeutet das, Verantwortung abzugeben. Manchmal, Hilfe anzunehmen. Manchmal, Grenzen neu zu setzen oder mutig auszusprechen, was nicht mehr funktioniert.
Und manchmal bedeutet es, die Art und Weise zu verändern, wie wir unsere eigene Geschichte erzählen — nicht als Scheitern, sondern als Erfahrung, als Übergang, als nötige Kurskorrektur.
Das heutige Rezept lautet also nicht mehr: „Einfach süß drübergießen.“
Sondern vielmehr: hinsehen, bevor man reagiert. Wahrnehmen, was da ist, auch wenn es unbequem bleibt. Annehmen, was fehlt — ohne sich dafür zu verurteilen. Und aus dem machen, was man hat, statt ewig auf das zu warten, was irgendwann vielleicht kommt.
Wenn man diesen Blick einmal gefunden hat — diesen ehrlichen, erwachsenen, ungeschönten Blick auf das eigene Leben — entsteht etwas, das stärker ist als jede perfekte Fassade: Klarheit. Haltung. Selbstrespekt. Ein neues Verständnis dafür, wie viel Kraft in uns steckt, selbst wenn äußere Umstände uns eigentlich klein machen könnten.
Dann wird aus der Zitrone nicht plötzlich etwas Süßes. Sondern etwas Kraftvolles. Erwachsenes. Echtes.
Ein neuer Blick auf den Alltag. Ein Gefühl von: Ich kann das. Und ich darf das auf meine Weise tun. Und manchmal eben auch ein Gin Tonic.
Quellen:
– Journal of Marriage and Family: Studien zur Doppelbelastung, Elternschaft und Arbeitsbelastung
– Journal of Family Issues: Forschung zu Mental Load, Genderrollen und unsichtbarer Care-Arbeit
– OECD Family Database: Belastungsstudien und Lebensrealitäten von Alleinerziehenden
– European Institute for Gender Equality: Zeitverwendung, Erwerbsarbeit und Care-Verteilung
– Harvard Business Review – „The Double Shift“ & „Women at Work“
– Deloitte Women @ Work Report 2023–2024: Karriereambitionen, Belastung, Vereinbarkeitswünsche
– Journal of Occupational Health Psychology: Erholung, Regeneration und Me-Time als Resilienzfaktor
– Research von George Bonanno (Columbia University) zur Alltagsresilienz
– American Psychological Association (APA) zu sozialen Schutzfaktoren und emotionaler Anpassungsfähigkeit
– Journal of Positive Psychology: Stress-Reappraisal, Selbstmitgefühl, Bewältigungsstrategien